Ein Lebenstraum von Nord nach Süd

Umwege lohnen sich

Es ist Dienstag morgen, wir hören beim Aufwachen den Regen auf dem Zelt. Wobei man sich nicht täuschen lassen darf, das Geräusch des Regens dramatisiert immer ein bisschen: Niesel hört sich an wie Regen, Regen hört sich an wie Wolkenbruch, Wolkenbruch hört sich an wie… naja, vielleicht Weltuntergang? Gleichzeitig wirkt das Geräusch auch einschläfernd und wir pennen glatt nochmal ein. Allerdings nur, um eine Stunde später wieder bei Niesel aufzuwachen.

Es hilft nichts: Der Übernachtungsplatz am Ende eines Waldweges lädt uns kaum dazu ein, den Tag hier zu verbringen und so vereinbaren wir Arbeitsteilung für die Startvorbereitungen: Udo Hintensitzer darf draußen trockenes Holz für den Frühstückskaffee suchen und den Hobo anwerfen, Tina Vornesitzer darf im Zelt bleiben und muss dafür die Luftmatratzen und Schlafsäcke einpacken bis der Kaffee kocht und das Müsli bereit steht. Die Sitzordnung behalten wir bei, Vornesitzer darf im Vorzelt frühstücken während Hintensitzer im jetzt wirklich nicht mehr nennenswerten Nieselregen seinen Kaffee schlürft. Ziemlich fix sind wir dann mit den restlichen Packaktivitäten fertig (unter 2,5 Stunden zwischen Aufstehen und Losfahren, neuer Rekord!!!), schieben das Pino über den Waldweg zurück zur Straße und radeln los.

Heute wollen wir über die 710 nach Brekstad zur Fähre fahren. Diese Fähre geht über den Trondheimsfjorden und wird unsere letzte Fähre auf dem Weg nach Trondheim sein. Auf der Landkarte ist südlich dieser 710 noch die alte Straße FV231 eingezeichnet, die über die Weiler Stallvik und Høybakken führt und mit Sicherheit weniger Verkehr hat. Dafür sind wir uns nicht sicher, wie der Straßenbelag zu erwarten ist, unser Tandem ist wegen dem hohen Gewicht auf dem 20-Zoll Vorderrad sehr empfindlich auf tiefen Kies… aber wir wollen es auf jeden Fall riskieren um näher an Natur und weiter vom Verkehr fahren zu können.

Die ersten Kilometer nach unserem Übernachtungsplatz geht es gemütlich sanft abwärts und wir nutzen die Gelegenheit, unser Wasser an einem Bach wieder aufzufüllen.

Außerdem gehen wir in Årnes sicherheitshalber gleich einkaufen, da die nächsten Einkaufsmöglichkeiten auf unserer Karte erst 60 Kilometer später in Brekstad verzeichnet sind. Als wir aus dem Supermarkt kommen sehen wir wie eine Frau ihren Wagen laufen lässt während sie zum Einkaufen in den Markt verschwindet…

Einschub „Günstige Fahrgelegenheiten und Luftverschmutzung“:

Wer mit dem Fahrrad in Urlaub fahren möchte und mit einem schönen neuen Auto zurückkommen will sollte Norwegen in Erwägung ziehen. Man sieht dort sehr häufig, wie jemand an der Tankstelle oder beim Einkaufen den Motor des Wagens mit steckendem Schlüssel einfach laufen lässt während er seine Besorgungen macht… was bei uns aus Umweltschutzgründen und potentiellen Autodieben keiner machen würde.
Wir sind uns nicht ganz sicher, warum Norweger das so machen, vermutlich hat es mit Gewohnheiten aus strengen Wintern zu tun: Bei -10°C und kälter beginnt diese Angewohnheit schon Sinn zu machen. Mangels Großstadterfahrung zählen die Menschen in Nord-Norwegen das Wort Luftverschmutzung auch gar nicht zu ihrem Wortschatz. Nebenbei gibt uns das aber auch ein gutes Gefühl, die Kriminalitätsrate scheint in Norwegen sehr niedrig zu sein, auch das Grundvertrauen anderen und fremden Menschen gegenüber scheint sehr viel höher als bei uns zuhause zu sein. Jedenfalls hätten wir in sieben Wochen Norwegen dutzende Male die Möglichkeit gehabt, unser Pino gegen einen guten Gebrauchten einzutauschen.

Als wir eine Stunde später die Abzweigung zur FV231 erreichen sind wir zuerst nicht sicher: Die abzweigende Straße ist unscheinbar, was den Straßenbelag -festgefahrener, glatter Kies- betrifft aber auf der anderen Seite sehr beängstigend weil sie direkt mit 200 Metern Steigung der 10%-Klasse aufwartet. Und was nach der Kurve da oben kommt können wir noch gar nicht mal ausmachen. Die Entscheidung, hier trotzdem abzubiegen ist dann doch ganz einfach, als ein Convoy von guten 10 Autos und 2 LKWs an uns vorbeifährt. Lieber naturnah wegen Steigungen schwitzen als sich konstant überholen und den Spaß am Radfahren nehmen zu lassen.

Jedenfalls lohnt sich diese alte Straßenführung in dreierlei Hinsicht: Zum einen sehen wir auf den nächsten 20 Kilometern kaum mehr als zwei Autos auf unserer Straße, zum anderen bleibt der komprimierte Kies (später Asphalt) durchgehend schlaglochfrei und zum dritten hält sie uns warm: Außer der anfänglichen heftigen Steigung lässt uns die wellige Strecke mit ihren bösen Zwischensteigungen gleichmäßig schwitzen.

Die wohlverdiente Nachtruhe halten wir deshalb nach etwas verkürzter Etappe schon auf dem Campingplatz Austratt wo wir auch am nächsten Morgen noch lange faulenzen, Gitarre spielen, stricken und extra Kaffee trinken bevor wir zur 14Uhr-Fähre nach Brekstad radeln.

Das Wetter ist heute prima, einzig das Höhenprofil macht den müden Beinen etwas Angst. Direkt nach der Fähranlegestelle Agdenes steigt die Straße auf gut 100 Höhenmeter an, bleibt danach für einige Kilometer sanft wellig um vor Orkanger nochmals auf 170 Meter anzusteigen. Wir versuchen es kurz mit Jammern und Selbstmitleid, aber das Höhenprofil lässt sich so wenig beeindrucken wie ein guter Schiedsrichter bei einer Arjen Robben Schwalbe im Strafraum. Also packen wir’s einfach an.

Bei der ersten Steigung werden wir dann von einer Ausflugsgruppe Fliegen in Mannschaftsstärke begleitet, die unser Schwerlasttempo bergauf lässig mithalten können. Auch wenn sie nicht stechen sind sie doch super lästige Viecher und wollen einem am liebsten in die Augen sitzen oder -noch schlimmer- eingeatmet werden. Zum Glück können wir bergab den Turbo zünden und die Tierchen müssen sich neue Opfer suchen.
Überhaupt sind wir heute überraschenderweise richtig gut drauf und brennen auch dank konstantem Rückenwind einen Rekordschnitt auf den Asphalt. Knapp 19km/h Tagesschnitt ist für uns auf einer welligen Strecke schon eine echte Hausnummer.

Highlight für Highlight: Gegen Ende des zweiten längeren Anstiegs des Tages sieht Tina Vornesitzer eine Kuh… nein, ein Pferd…. NEIN: einen Elch am Waldrand. Wir halten an, packen das Fernglas und die Kamera aus und fotographieren das Tier ausgiebig bis es -vermutlich genervt von uns- im Wald verschwindet. Auf den Fotos sieht man, dass es ein männlicher Elch ist, der gerade sein Winterfell abwirft und sein Geweih schon irgendwo verlegt haben muss. Da sind nämlich schon die Geweihstümpfe des 2016er Jahrgangs zu sehen. Ausgehend von seiner Statur und Größe dürfte es vermutlich ein junger Elchbulle mit 3-4 Jahren sein.
Jedenfalls haben wir wieder ein spannendes Gesprächsthema für die restlichen Kilometer bis zum Campingplatz in Orkanger und freuen uns darauf, unsere Fotos am Notebook durchzuschauen.

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Unsere Etappen in der Übersicht

Die Hinreise zum Nordkapp

Vom Nordkapp nach Tromsø

Troms - Vesteralen - Lofoten

Bodø - Trondheim

Trondheim - Südnorwegen / Halden

Schwedische Westküste

Deutschland Nordost-Südwest: Usedom bis Bodensee

Frankreich Ost-West: Mulhouse - Nantes - Eurovelo 6

Frankreich Atlantikküste: St. Nazaire - Biarritz - Eurovelo 1

Spanien: Atlantik und Jakobsweg

 

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