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Loire-à-velo 3: Tours – St. Nazaire – Atlantik
Radreise auf Langzeit, 7 Monate Sabbatical, unendlich viel Zeit für Alles. Hoffentlich keine zehrende Langeweile, wenn der Sprung aus stressreichen Arbeitswochen ins Nichts-Tun allzu heftig ausfällt. Sicherheitshalber ein paar Bücher auf dem eBook-Reader bunkern, eine Gitarre mitnehmen um endlich wieder Musik zu machen. Und, falls die Langeweile zu heftig wird, zusätzlich noch ein Fachbuch über Shopsoftware für Tinas Firma mitnehmen.
So oder so ähnlich war Udo Hintensitzers Vorstellung einer Langzeitreise auf dem Rad, die ersten Tage der Reise haben wir uns auch genau in diese Vorstellung fallen lassen.
Nun, der Zahn ist gezogen: Auf einer Langzeitreise mit Rad und Zelt gibt es keine Langeweile, der Tagesablauf orientiert sich am Tageslicht und hat mehr Struktur als wir uns je hätten vorstellen können. So hat die Gitarre auf dem Gepäckträger viel mehr Kilometer als Akkordwechsel gesehen und der eBook-Reader läuft immer noch auf der allerersten Akkufüllung. Und Tinas Strickplanung für kuschelige Wollsocken wurde auch schon nach wenigen Wochen und nach höchstens 10 gestrickten Reihen wieder beerdigt. Der Tagesrythmus tickt -zumindest bei uns- komplett anders. Wie?
Der Tag beginnt morgens mit dem Klingeln des Weckers, 7 Uhr. Richtig gelesen: Wir, im normalen Leben Langschläfer, haben 7 Monate Zeit für uns und stellen uns jeden Morgen einen Wecker.
Immerhin, mit dem späteren Sonnenaufgang jetzt Ende September, macht sieben Uhr weniger Sinn und wir gehen in Richtung 7:30.
„Soll ich Dir einen Kaffee kochen, Schatz Vornesitzer?“ heißt die zweite Konstante in unserem Reisealltag. Udo Hintensitzer schält sich aus seinem Schlafsack, schnappt den Holzkocher, Küchenkoffer und Brennholz aus dem Vorzelt und feuert den Holzbrenner an.
Alles ist jetzt perfekt durchoptimiert: Tina Vornesitzer macht die Luftmatratzen klein, stopft die Schlafsäcke in deren Taschen und packt diese ganzen ‚heiligen‘ (weil sie unter allen Umständen trocken bleiben müssen) Sachen in die große gelbe Packtasche. In derselben Zeit hat Udo Hintensitzer schon die Stühle aufgebaut, aufgepasst dass der Kocher nicht ausgeht, das Kaffeepulver in die Thermoskanne gezählt, aufgepasst dass der Kocher nicht ausgeht, das Frühstück auf den Tisch gestellt, aufgepasst dass der Kocher nicht ausgeht. Und zwischendrin Holz nachgelegt, dass der Kocher nicht ausgeht.
Ungefähr 45 Minuten später hat der Kaffee gezogen, Tina Vornesitzer wird mit einem gesungenen „…der Kaffee ist fertig…“ <Youtube-link> aus dem Zelt gelockt und wir begehen das erste Highlight des Tages: Frühstück im Freien in der Morgendämmerung. Manchmal in kurzer Hose und optimistischem T-Shirt, manchmal in Daunenjacke, Radstiefeln und in Extremfällen auch mal mit Handschuhen.
Richtig: Wenn Udo Hintensitzer aufgepasst hat dass der Kocher nicht ausgeht kann man daran nochmal die Hände wärmen.
Das Frühstück ist dann auch die eigentliche Trödelzeit des Tages, die zwei Tassen Kaffee in Ruhe zu trinken würden wir erst als Allerletztes wegoptimieren.
Damit ist der Tag für uns schon beinahe zwei Stunden alt und wir haben noch keinen Kilometer der Tagesstrecke geplant oder geradelt.
Weiter geht’s: Tina Vordersitzer ist Packmeister und als Einzige in der Lage, den Küchenkoffer und die gelbe Tasche so einzuräumen dass wirklich alles reinpasst. Dafür muss Udo Hintensitzer sich um das -meist vom Kondenswasser klatschnasse- Zelt kümmern, abbauen und einpacken. Dann in Teamwork zusammen alle Taschen ans Rad anbauen, schauen dass wir nichts vergessen und…
Kommando „AUFSITZEN„.
An guten Tagen schaffen wir diesen Tagesabschnitt in zweieinhalb Stunden, im Normalfall sind aber eher drei Stunden die 2RadReise-Regel.
Losradeln… und meist nach weniger als 10 Kilometern schon wieder der zweite Stopp: Auf dem Rad kann man den Proviant nur für maximal 2 Tage einpacken, deshalb macht unser Team für frisches Brot oder leckeres Mittagessen „aus der Hand“ meist schon in der ersten Ortschaft halt. Die nächsten 4-5 Stopps gehören Fotomotiven und selten schaffen wir mehr als 25 Kilometer Fahrt vor der Mittagspause…. schon wieder anhalten.
In Summe sitzt so ein 2RadReise-Gespann am Tag dann runde 5 Stunden auf dem Tandem und macht abends Stopp um in einem -wieder durchoptimierten- Ablauf das Zelt hinzustellen, zu kochen und schlussendlich das Innenzelt vor Dunkelheit schlaffähig zu bekommen.
Kurzfassung: Morgens 3 Stunden bis zum Tourstart, 5 Stunden radeln, 1 Stunde Mittagspause, 1 Stunde Fotopausen, 3 Stunden Zelt aufbauen und fertigmachen knallt einen Tag irgendwie komplett voll und nimmt der Sorge, man könnte Langeweile schieben, alle Luft aus den Segeln. Und die Gitarre sieht immer noch aus wie neu. Leider leidet auch der Blogeintrag unter diesem Tagesplan, wir sind doch ein paar Tage hintendran.
Zurück zum Loire-à-vélo:
Wir hatten in Tours einen Ruhetag eingelegt und machen uns auf die letzten Tagesetappen in Richtung Atlantik. Dem fiebern wir Drei schon etwas entgegen: Udo Vorne- und Tina Hintensitzer hatten schon einige schöne Urlaube an den Sanddünen genossen und Ole Isbjørn freut sich darauf, endlich wieder ’sein‘ Meer zu sehen und von Norwegen zu träumen.
Wir radeln aus der Stadt heraus, es geht an einer kilometerlangen, parkähnlichen Landschaft zuerst am Chèr, später an der Loire entlang in Richtung Westen.
Die Loire ist zwar kaum in Sichtweite, dafür kommen Rastplätze in Serie, nach gerade einmal 20 Kilometern hat die Disziplin ein Loch und wir halten für die Mittagspause an.
Wir sind nicht alleine: Ein Stockentenpaar wohnt hier und fordert mit freundlich leisem Geschnatter eine Platzmiete von uns ein. Putzige Tiere, die ihre Scheu fast komplett verloren haben und uns am liebsten aus der Hand fressen würden.
Achtung ihr beiden: Hat euch schon jemand geschnattert, dass die Jagdsaison wieder angefangen hat?
Es geht auf dem Damm entlang der Loire durch ein paar Dörfchen, aber jedesmal, wenn die Loire vom Radweg aus zu sehen ist, bieten sich tolle fotogene Ausblicke an denen man einfach anhalten muss. Auch deshalb wird es wieder späte Dämmerung, als wir auf dem Campingplatz in Savigny unser Zelt aufbauen. Ein Zeltplatz übrigens, der in den Frühjahren regelmäßig vom Hochwasser der Vienne überflutet wird… da bekommen Luftmatratzen schlagartig einen zweiten Sinn.
Nach Savigny wird der Loire-Radweg etwas schwieriger: Nach langen, überwiegend flachen Streckenabschnitten im weiten Tal der Loire führt der Radweg jetzt öfters auf die Hügel neben der Loire und verlangt dem Radtouristen ohne E-Motor ein paar Körner ab.
Im Gegenzug geht es durch Weinberge, in denen die Trauben jetzt kurz vor der Ernte stehen und in Souzay durch historische Fels-Städte.
Richtig: Der Radweg führt mitten durch diese unterirdischen Straßen, die im elften Jahrhundert mitsamt den Wohnräumen hier aus dem Fels geschlagen wurden. Wir stehen hier in der Rue de Commerce, die einmal Einkaufsstraße mit Läden war und die bis ins 20. Jahrhundert noch immer als solche genutzt war. Beeindruckender Radweg, vermutlich sind die Häuser hier im Dorf alle ein kleine bisschen wie Eisberge: Man sieht nur einen gewissen Teil von ihnen,der Rest spielt sich wahrscheinlich unterirdisch ab.
Warmshower
Für heute abend haben wir einen warmshower-Gastgeber gefunden. Noch nicht erklärt?
Also: warmshower.org ist eine Internet-Community, auf der sich Radreisende gegenseitig Übernachtungen anbieten können. Wenn man bereit ist, Radreisende für eine Nacht (eine warme Dusche, Unterstützung bei Fahrradreparatur, Tipps für Radrouten, …) bei sich aufzunehmen, kann man sich dort mit (ungefährer) Adresse und mit einer kurzen Beschreibung von sich selbst eintragen. Radreisende, die durch eure Stadt kommen, können die Profile dieser Übernachtungsanbieter sehen und per freundlicher email anfragen ob eine Übernachtung möglich wäre. Ihr seht dann das Profil und Bewertungen des Anfragenden und könnt ihn entweder willkommen heißen oder eben unverbindlich freundlich ablehnen.
Ein tolles System: Der Radreisende gewinnt, weil er zum einen eine günstige Übernachtung findet und sich dazu Tipps über die Gegend abholen kann. Der Gastgeber gewinnt, weil er einen Gast aufnehmen kann, der bestimmt interessante Geschichten von seinem Radprojekt erzählen kann. Klar: ein bisschen Vertrauen gehört schon dazu, einen Fremden in sein Haus einzuladen und die Bewertungen des potentiellen Gastes sollte man auch lesen. Am Ende ist es aber praktisch immer eine Win/Win-Situation für die Beteiligten.
Unsere Übernachtungsgastgeberin heute heißt Lucy und hat laut ihrem Warmshower-Profil ein Wochenendgrundstück direkt an der Loire mit Hütte, Toilette, fließendem Frischwasser und Grillstelle.
Wir haben freundlich angefragt und ein Foto des 2RadReise-Teams mit angehängt und bekommen kurz danach eine Zusage von Lucy. Sie sei dieses Wochenende zwar nicht zuhause, wir könnten unser Zelt aber sehr gerne auf Ihrem Grundstück aufstellen. Ein Telefonat später teilt sie uns die genauen Koordinaten des Wochenendgrunstückes mit und erklärt uns haarklein, wo wir den Hauptwasserhahn öffnen können, wo wir die Toilette finden und dass wir unbedingt den Sonnenuntergang über der Loire anschauen sollen.
Bisschen kurios ist das schon: Auf einem privaten Grundstück direkt an der Loire unser Zelt aufzubauen, ohne Lucy direkt getroffen zu haben. Der Gedanke mag ja erlaubt sein, ob Lucy in Wirklichkeit nur einen Nachbarn ärgern möchte, indem sie ihm 2RadReisende auf die Wiese lockt? Gedanke verdrängt: Wir finden das Grundstück, den Hauptwasserhahn, bauen fix unser Zelt auf und kochen im Eilgang damit wir rechtzeitig mit Essen und Rotwein an die Loire zum Sonnenuntergang sitzen können. MERCI BEAUCOUP Lucy!!!
Wir verbringen eine herrlich ruhige Nacht, kochen morgens noch unseren Kaffee, hinterlassen eine Flasche Rotwein auf Lucies Grundstück, bauen unser Zelt ab und schieben dann unser Pino vom Grundstück.
Just in diesem Moment kommt eine Frau zögerlich auf uns zugeradelt. Sie lächelt aber freundlich -toitoitoi: hoffentlich keine geärgerte Nachbarin- und wir fragen sie gleich, ob sie Lucy sei. Nö, Lucy heißt sie nicht, aber sie hat hier auch ein Wochenendgrundstück und wollte uns fragen, wie wir auf diesen Zeltplatz gekommen sind.
Wir erklären ihr Warmshower -inzwischen ist ihr Mann und Sohn per Auto auch den Feldweg entlang gekommen- und erzählen von unserem 2RadReiseprojekt.
Die Drei sind von dieser Idee so begeistert und würden am liebsten gleich hier und jetzt ihr eigenes Warmshower-Profil anlegen um interessante Gäste einladen zu können.
Wirklich: Die drei lassen uns nicht gehen, bevor wir uns auch ihr Grundstück angeschaut haben. Ob wir noch duschen wollten: In ihrer Gartenhütte haben sie eine komfortable Dusche eingerichtet. Und ein Bett haben sie auch drin. Und wenn wir wollten, der Sohn feiert heute sein einjähriges Ehejubiläum auf dem Grundstück, könnten wir gerne noch eine Nacht bleiben!. Wir wollen zwar, aber es sind noch so viele Kilometer bis Gibraltar… wir fahren doch weiter:
Auf den Campingplatz kurz vor Nantes. Auch hier feiert jemand eine Hochzeit, einen Junggesellenabschied oder einen Geburtstag. Oder eine Scheidung. Oder ein Wochenende.
Jedenfalls feiern sie mit ziemlich viel Bier, Wein, Trinksprüchen und Kneipenliedern so ausdauernd, dass die Nacht auch für uns ein bisschen kurz wird. Die Zeltwand hält halt doch nicht so viel Lärm ab. Egal.
Bald nach dem gesungenen „… der Kaffee ist fertig…“ am frühen Morgen machen wir uns auf den Weg für die letzte Loire-Etappe zum Atlantik und erleben die nächste kuriose Szenerie:
Der Radweg nach Westen führt hier an einem schmalen Schilfgebiet entlang nach Nantes. Es ist Sonntag vormittag und der Weg ist mit Radfahrern, Joggern, Inliner-Skatern und Spaziergängern recht gut belebt.
Wir, chronisch gut gelaunte Glückskinder auf Europatraumreise, grüßen praktisch Jeden im Gegenverkehr mit einem freundlich gelächelten Bonjour. Auch die drei Jäger in Tarn mit der Flinte unter dem Arm, die so grimmig gucken.
Wie bitte? Jäger? Auf dem bevölkerten Radweg? Wirklich wahr, was wollen die denn hier? Ok, die Jagdsaison hat wohl gerade erst begonnen, da kann man schon mal zeigen, was man hat. Aber hier im Schilf jagen zu wollen, wo nur wenige Meter entfernt Spaziergänger und Radfahrer Lärm machen scheint uns doch ein bisschen optimistisch zu sein. Vermutlich sehen die Drei das aber anders und schieben die Schuld für den vermiesten Jagdausflug eher auf die Nutzer des Freizeitweges als auf ihre -naja- etwas unzureichende Jagdrevierplanung für diesen Morgen. Wir sind auf jeden Fall froh, dass wir zügig aus der Schussreichweite der drei grimmigen Kollegen kommen.
Die letzte Etappe zum Atlantik zeigt recht wenig Loire, ist dafür sehr anspruchsvoll was die Strecke angeht. Wir wechseln unzählige Male von Flusshöhe die Siedlungen hoch und wieder runter, so dass wir nach der letzten Sichtung der Loire -Vorboten des Industriehafens St. Nazaire- eine Abkürzung an den Atlantik wählen.
Der Tacho zeigt 6842 Kilometer seit unserem Reisestart als wir unser Pino zum Sandstrand am Atlantik schieben. Uns erfüllt schon ein etwas erhebendes Gefühl, vom Nordkap hierher geradelt zu sein. Am arktischen Ozean und in eisiger Landschaft unser Tandem und Zelt gepackt zu haben um nach einer Radreise durch ganz Norwegen, Schweden, Deutschland und Frankreich jetzt an der französischen Westküste zu stehen.
Vorne- und Hintensitzer sind schon ein bisschen stolz darauf und feiern das mit leckeren Madeleines in den Dünen während Ole Isbjørn die Gunst der Stunde nutzt und sich „sein“ Meer genauer anschaut. Ihm fehlen hier zwar die Höhlen und die Fjorde, aber er ist eine gute Stunde in der Brandung unterwegs bevor wir uns auf die Suche nach einem Campingplatz machen.
Weiter mit „VélOdyssée 1: St. Nazaire – La Rochelle“